Hans Bethge (1876 - 1946)

Sonnenuntergang (1900)

Eine Dichtung



Erzähler, Die Mutter, Cläre, Joachim



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Erzähler – gelesen von ...

Die Muttergelesen von …

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Erzähler #1:

A UNE MORTE QUI VIT

Wir sprachen von des Sommers Rosen schon,

Da doch noch erster Frühling um uns war.

Wir sahen Kränze schon in unseren Locken,

Und noch war kaum das erste junge Blatt

Ans Licht gedrungen. Das ist nun vorbei.

Es blüht und glänzt und düftet überall.

Die Nachtigall, die wir so sehr ersehnt,

Singt jede Nacht. Doch singt sie nichts als Qual

Und Qual und Qual. Du bist — ich weis nicht wo.

Die Nacht geht kalt. Ich wünsche mir den Tod.

Den Tod.

VALENCIA 1899.


Erzähler #2:

Zeit: Gegenwart

Ort: Ein altes Herrenhaus

Ein geräumiges Zimmer mit altem, gediegenem Mobiliar. Auf der linken Seite ein weisser Marmorkamin, darüber ein Spiegel. Auf dem Kamin eine bronzene Stutzuhr, zwei bronzene Leuchter und eine Vase mit Feldblumen. Hinten ein breites geöffnetes Fenster in den Park, auf dem die Abendsonne liegt. Links vom Fenster ein Lehnstuhl. Vorn links ein Tischarrangement, Türen in der rechten und linken Wand. Vorn rechts eine Chaiselongue mit seidenen Kissen und einer seidenen Decke.

Cläre sitzt in einem Lehnstuhl am Tisch, dem Kamin den Rücken zukehrend, ein Buch in der Hand. Sie hat volles, aschblondes Haar und blaue Augen. Sie sieht bleich aus und hustet hin und wieder. Ihre Stimme ist schwach. Sie ist hell und einfach gekleidet. Die Mutter sitzt bei ihr, mit einer Handarbeit beschäftigt.

Cläre #3: Ich glaube, er kommt nun doch nicht mehr.

Mutter #4: Er wird kommen, mein Kind. Er hat es Dir doch versprochen.

Cläre #5: Aber er bleibt so lange.

Mutter #6: Der Dienst wird ihn in Anspruch nehmen.

Cläre #7: Er weiss doch, wie bange mir nach ihm ist.

Mutter #8: Du bist ungeduldig, Kind. Du musst das Warten noch erlernen. Sieh: je länger die Trennung, desto reicher ist das Wiedersehen.

Cläre #9: Aber nicht gar so lange, das ertrage ich nicht. Ich fühle mich heut sehr leidend, Mutter.

Erzähler #10: sie hustet.

Mutter dicht neben ihr:

Mutter #11: Mein Clärchen . . . hast Du Schmerzen?

Erzähler #12: Cläre nickt.

Mutter #13: Die Brust; ja — wenn das nicht wäre. Aber es wird Alles vorübergehen. Du musst nur immer recht ruhig sein, das tut Dir gut.

Cläre #14: Mutter, ich bin ja ganz ruhig. Aber bei mir ist Alles vergebens.

Mutter #15: Cläre, Du sollst doch nicht so sprechen. Mein Kind wird gesund und fröhlich werden.

Cläre #16: Ich fühle, Mutter, dass es immer schlechter mit mir wird, beinah mit jedem Tag. Wie soll ich da noch hoffen? Ich habe heut wieder die Stiche im Rücken. Das sind die schlimmsten, die haben die meiste Gewalt. Die auf der Brust tun nicht so weh. Aber die im Rücken . . . .

Erzähler #17: sie hustet.

Mutter #18: Das verschwindet, mein Kind. Glaube mir, die Stiche werden sich verlieren. Sieh doch, wie ich voll Hoffnung bin? Könnte ich so viel Hoffnung haben, wenn ich wüsste, dass ich mein Kind . . . . nein, nein . . . wir wollen gar nicht daran denken . . . es ist ja Torheit . . . der Arzt hat ja auch die grösste Zuversicht.

Cläre #19: Ach, der Arzt.

Mutter #20: Glaubst Du etwa nicht an den Arzt? Weisst Du nicht, wie prächtig er mich geheilt hat, als ich voriges Jahr zum Tode niederlag? Er ist ein guter Arzt, er wird Dir auch helfen.

Cläre #21: Hat er Dir das gesagt?

Mutter #22: Das hat er mir gesagt.

Cläre #23: Liebe Mutter . . . sei mir nicht böse . . . ich kann es nicht glauben . . .

Erzähler #24: Mutter legt das Haupt in Clärens Schoss.

Pause.

Cläre #25: Bist Du mir böse, Mutter?

Erzähler #26: Mutter das Haupt erhebend:

Mutter #27: Du sollst mich nicht ohne Grund traurig machen.

Cläre #28: Was macht Dich denn traurig, Mutter? Dass ich sterben muss? Mein Gott, wenn es weiter nichts ist. Das Sterben ist gut. Es ist das Beste, was uns widerfahren kann, wenn wir in Schmerzen sind. Dann haben die Schmerzen ein Ende. Dann kommt der Frieden. — — Mutter, wie spät ist es?

Mutter #29: Es geht auf sieben, Clärchen.

Cläre #30: Joachim ist noch nicht da.

Mutter #31: Er wird uns nun nicht mehr lange warten lassen.

Cläre #32: Wenn er nur noch bei Tage kommt. — — Mutter, ist die Sonne noch da?

Mutter #33: Gewiss, mein Kind. Der Himmel ist blau und ohne Wolken. Aber die Sonne steht schon tief. Soll ich Dich ans Fenster führen?

Cläre #34: Joachim soll mich ans Fenster führen, wenn er kommt; sonst mag ich die Sonne nicht sehen. Sie steht schon tief, sagst Du? Wird sie bald untergehen?

Mutter #35: Sie steht schon hinter den Bäumen, aber sie scheint klar hindurch. Sie hat noch eine ganze Weile bis zum Untergang.

Cläre #36: Sie soll nicht ohne mich untergeben. Joachim soll sie auch sehen. Wenn sie doch noch recht lange bei uns bliebe.

Mutter #37: Sie hat noch lange, ehe der Abend kommt

Cläre #38: Der Abend ist traurig und die Nacht. Sie sind finster und tot. Ich möchte Licht und Leben um mich haben, ich Arme.

Mutter #39: Das soll Dir werden in Deinem hellen Herzen.

Erzähler #40: Cläre indem sie sich schnell aufrichtet:

Cläre #41: Ich höre etwas . . . es kommen Schritte aus dem Garten, das ist Joachim . . . ich weiss es, ich höre es, dass er es ist . . .

Erzähler #42: Mutter blickt zum Fenster hinaus:

Mutter #43: Wahrhaftig, er ist es. Joachim.

Erzähler #44: Cläre aufgeregt:

Cläre #45: Mutter . . .

Mutter #46: Was denn, mein süsses Kind . . .

Erzähler #47: Cläre flüsternd:

Cläre #48: Ist die Sonne noch da?

Mutter #49: Klar und golden.

Cläre #50: Sind keine Wolken am Himmel?

Mutter #51: Keine.

Cläre #52: O mein Gott . . . die Sonne . . . und heller Himmel . . . und mein Joachim . . . nun will ich leben . . . leben . . .

Mutter #53: CIäre, mein liebes Kind, ich bitte Dich, sei nicht so aufgeregt. Beruhige Dich. Was soll Joachim von Dir denken. Sei ganz still, mein Clärchen.

Cläre #54: Ja, ich will ganz still sein. Es ist ja nur die Freude, Mutter . . . die Freude . . . ich weiss ja nicht, was ich vor Freude beginnen soll . . .

Mutter #55: Die Aufregung wird Dir schaden, mein Kind.

Erzähler #56: Sie fährt Clären mit der Hand übers Haar.

Mutter #57: Willst Du mir zu Liebe ruhig sein?

Cläre #58: Ja, Mutter, ja . . . sag, seh ich auch gut aus? Ist mein Haar in Ordnung? Und mein Kleid?

Mutter #59: Alles. Du siehst schön aus wie immer.

Cläre #60: Ich möchte nicht, dass sich Joachim ärgert über mich. Er soll sich über mich freuen. — — Sag, bin ich nicht sehr bleich?

Mutter #61: Nicht bleicher als sonst.

Cläre #62: Sind meine Augen nicht sehr trübe?

Mutter #63: Sie sind zart und glänzen wie immer.

Cläre #64: Hinter mir auf dem Kamin muss ein Strauss von Feldblumen sein, die mir Amalie heut früh gepflückt hat.

Mutter #65: Willst Du sie haben?

Cläre #66: Ist roter Mohn dazwischen? Mir ist, dass welcher dazwischen sei.

Mutter #67: Er beginnt schon welk zu werden.

Cläre #68: Nimm ein paar Stengel heraus und stecke sie mir ins Haar. Es steht mir gut, Joachim hat es oft gesagt.

Mutter #69: Wie Du willst, mein Kind. Aber sieh, die Blüten lassen schon die Köpfe hängen.

Cläre #70: Winde sie mir ins Haar, die müden, hängenden Blüten. Aber nimm auch nicht die ganz welken. Und nicht mehr als zwei. Hast Du? Ich danke Dir.

Mutter #71: Hörst Du ihn die Treppe hinauf? Das sind seine Sporen. Nun ist er da.

Cläre #72: Ich höre ihn. Mein Liebster.

Erzähler #73: Die Tür rechts öffnet sich. Herein kommt Joachim in Leutnantsuniform: Interimsrock. Er eilt auf Cläre zu, die sich erhebt und ihm an die Brust sinkt.

Cläre #74: Joachim . . .

Joachim #75: Cläre, Cläre, meine Cläre . . .

Erzähler #76: Pause.

Die Mutter entfernt sich lautlos durch die Tür links. Cläre lässt sich wieder nieder. Joachim setzt sich neben sie.

Cläre #77: Liebster, wie bist Du lange geblieben.

Joachim #78: Ich wäre längst bei meinem Clärchen, hätten es meine Pflichten erlaubt. Gerade heut gab es so viel Verzögerungen. Ich habe immer nur an Dich dabei gedacht.

Cläre #79: Das macht, weil auch meine Gedanken immer bei Dir waren.

Joachim #80: Nun halte ich Dich fest an meiner Brust. Meine Cläre, meinen Engel.

Cläre #81: Deinen Todesengel.

Joachim #82: Was sagst Du da, Cläre? Wie kommst Du zu diesem hässlichen Wort?

Cläre #83: Weil meine Wangen weiss sind wie Schnee. Die andern Engel haben lachende Augen und Pausbacken mit süssem Rot.

Joachim #84: Ich glaube, meine Arme, Du hast heut viel zu leiden gehabt, dass Du so sprichst.

Cläre #85: Ich fühle mich schwächer als seit langer Zeit. Die Stiche im Rücken, weisst Du . . . Joachim, ich glaube, es ist nun nicht mehr lange hin, dann sehen wir uns nicht mehr.

Joachim #86: Cläre, ich bitte Dich, nur das nicht . . .

Cläre #87: Ich weiss, Du wirst trauern über mich. Wirst Du auch weinen?

Joachim #88: Ich werde nicht zu weinen brauchen, denn ich werde Dich nicht verlieren.

Cläre #89: Wenn die Trennung nicht wäre . . . Aber die Trennung und der Tod . . .

Joachim #90: Hast Du jetzt Schmerzen, mein Clärchen? Tut Dir die Brust noch weh? Sag, soll ich Dir eine Erfrischung bereiten?

Cläre #91: Es sind nicht grosse Schmerzen, die ich habe. Die Schwäche ist es, die entsetzliche Schwäche. Es friert mich, Joachim. Auch fällt mir das Sprechen heut so schwer.

Joachim #92: Du sprichst zu viel, Clärchen, Du musst Dich schonen. Lass mich für Dich sprechen. Ich habe Dir noch so vieles zu erzählen. Übrigens weisst Du, wer Dich grüssen lässt? Rate einmal. Es ist nicht schwer. Dein alter Liebling.

Cläre #93: Der Oberst

Joachim #94: Richtig. Unser alter, lieber Wohanka. „Joachim,“ sagte er, als wir endlich forttreten konnten, „nun machen Sie aber schnell! Fräulein Braut wird die Zeit nicht erwarten können.“ „Ich halte es auch nicht mehr aus, Herr Oberst,“ sagte ich. „Wollen Sie meinen Gaul?“ fragte er. Ob ich ihn wollte! Er sah zu, wie ich aufstieg und abtrabte. „Grüssen Sie von mir!“ rief er mir noch nach. Ihm haben wir’s zu verdanken, wenn wir zu dieser Stunde schon beisammen sind.

Cläre #95: ,Schon' sagst Du, — dabei ist der Tag bald hinüber, und ich habe Dich nur noch kurze Zeit. Die Sonne kann es nicht mehr weit bis zum Untergang haben. Mich deucht, es wird schon kühler im Zimmer. Ist es nicht kühler geworden?

Erzähler #96: Es durchschauert sie.

Joachim #97: Ich spüre nichts, Liebste. Aber ich will Dir ein Tuch umlegen, wenn Dich friert.

Cläre #98: Meine Brust . . .

Erzähler #99: Es durchschauert sie.

Joachim #100: Soll ich das Fenster schliessen?

Cläre #101: Ich glaube, es ist wärmer draussen als hier bei uns.

Joachim #102: Es ist ein wunderbarer Tag. Gar nicht wie Frühling mehr. Als ob es schon Sommer wäre.

Cläre #103: In unser Haus findet die Wärme schwer Einlass.

Joachim #104: Aber wenn sie erst einmal drinnen ist, geht sie auch um so schwerer hinaus. Lass es nur erst Sommer sein.

Cläre #105: Dann ist auch schon der Herbst wieder nahe.

Joachim #106: Daran darfst Du nicht denken, Liebste.

Cläre #107: Ich muss, Joachim,

Erzähler #108: Joachim breitet ein Tuch um Cläre:

Joachim #109: Nun soll sich mein Schatz erwärmen . . . so . . . an meiner Brust . . .

Erzähler #110: Cläre schmiegt sich an ihn:

Cläre #111: Ich danke Dir.

Joachim #112: Du meine Gute, Blasse . . . Ah, und was sehe ich in Deinem Haar? Roter Mohn . . . er ist am schönsten von allen Blüten in deinem blonden Haar. Mit ihm warst Du geschmückt, als ich Dich zum ersten male sah. Das ist nun schon mehr als ein Jahr vorbei. Weisst Du es noch?

Cläre #113: Ich weiss es. Ich war noch froh und gesund damals.

Joachim #114: Du trugest ein weisses Kleid, und es war Dein erster Ball. Du warst die Schönste von Allen. Als ich Dich sah, gehörte ich Dir schon ganz, Du Zauberin. Weisst Du noch, als wir tanzten?

Cläre #115: Ja. Wir sprachen wenig, aber wir wussten Alles.

Joachim #116: Ich fühle noch Deinen Kopf an meiner Schulter, gerade wie jetzt. Ich spüre noch Dein duftendes Haar vor meinen Augen und sehe den roten Mohn darin; gerade wie jetzt. Der Mohn zitterte leise, und auch Deine Hand bebte in meiner.

Cläre #117: Das tut sie nun nicht mehr. Aber der Mohn ist welk geworden.

Joachim #118: Mohn wird bald welk. Eher als alle andern Blüten.

Cläre #119: Er ist auch schöner als alle andern Blüten.

Joachim #120: Alles Schöne hat nur kurze Zeit

Cläre #121: Das ist das Los des Schönen.

Erzähler #122: Pause.

Cläre #123: Joachim . . .

Joachim #124: Liebste.

Cläre #125: Nimm das Tuch von meiner Schulter und lass uns aufstehen. Wir wollen ans Fenster treten und sehen wie die Sonne hinter dem Park versinkt. Komm.

Joachim #126: Siehst Du es gerne?

Cläre #127: Ich habe eine entsetzliche Angst, es zu sehen. Mir bangt davor, denn es ist traurig, und ich werde frieren, wenn ich es sehe. Aber ich will es dennoch sehen, mich verlangt danach mit Gewalt. Komm, ehe es zu spät wird.

Joachim #128: Lass doch die Sonne, Liebste. Was geht uns denn die Sonne an? Du sagst, sie erregt Dich, und ich weiss, dass sie Dich erregt; warum wollen wir sie also sehen? Nein, lass uns bleiben. Die Sonne geht auch ohne uns unter, glaube mir.

Cläre #129: Die Sonne von heute nicht, Joachim. Komm ans Fenster, ich muss sie sehen, ich gehöre dazu. Komm.

Joachim #130: Cläre . . .

Cläre #131: Komm.

Joachim #132: Wirst Du Dich auch bemühen, ruhig zu bleiben, mein Clärchen?

Cläre #133: Ich werde so ruhig bleiben wie Du.

Erzähler #134: Sie treten ans Fenster und halten sich umschlungen.

Joachim #135: Da steht sie. Man kann schon hineinblicken in ihren Glanz. Aber etwas tut es den Augen doch noch wehe.

Cläre #136: Meinen nicht; ich kann getrost hineinsehen. Sie hat ja fast keine Strahlen mehr. Die Zweige, hinter denen sie steht, mildern das Feuer auch.

Joachim #137: Ja, die Birken. Sie sehen fast schwarz aus in der Lohe. Ihre zarte Farbe kommt gegen diese Macht nicht auf. Aber als sie noch über den Birken stand, hätten wir nicht in sie hineinschauen können. Da hätte sie uns erblindet.

Cläre #138: Als sie noch über den Birken stand, sagst Du? Ja, das ist nun längst vorbei . . .

Joachim #139: Ich dächte, es sei nicht gar so lange.

Cläre #140: Doch, Joachim. So lange, dass es sich gar nicht mehr verlohnt daran zu denken. Auch wird uns die Zeit ja niemals wiederkehren.

Joachim #141: Aber sie kehrt doch täglich wieder, mein Clärchen. Morgen ist sie schon wieder da und übermorgen und immer.

Cläre #142: Das kannst Du nicht wissen, Joachim. Morgen kann der Himmel voll Wolken sein.

Joachim #143: Wie Du redest, Clärchen.

Cläre #144: Glaube mir, die Wolken sind eine furchtbare Macht, und die Sonne ist wehrlos gegen sie.

Joachim #145: Die Menschen vertragen es nicht, alle Zeit Sonne zu sehen.

Cläre #146: Das kannst Du nicht wissen, denn sie haben noch niemals alle Zeit Sonne gesehen. Aber die Natur, in der wir leben, ist grausam.

Joachim #147: Das darfst Du nicht sagen, Liebste. Sieh hinaus, wie herrlich sie zu Deinen Füssen liegt. Der ganze Park ist wie ein stilles Lächeln, und der Frühling herrscht darin. Fühlst Du die Düfte, die aus der Tiefe zu uns dringen? Jetzt, da der Abend kommt, werden sie stärker und stärker. Manche sind des Nachts so stark, dass sie betäubend auf die Sinne der Menschen wirken. Besonders wenn der silberne Mond am Himmel steht und alle Sterne glänzen. Jetzt aber haben wir die Sonne noch.

Cläre #148: Die Sonne ist licht und gut. Aber das Trübe ist das Starke auf dieser Welt. Das Lichte muss unterliegen.

Joachim #149: Nicht immer, Liebste.

Cläre #150: Immer.

Joachim #151: Cläre . . .

Cläre #152: Die Sonne stirbt, und der Abend und die Nacht werden herrschen. Da geht sie hin . . . . Joachim, mein Joachim . . . . können wir sie denn nicht halten? . . . O über uns schwache Menschen . . .

Joachim #153: Du erregst Dich, mein Clärchen . . .

Cläre #154: Jetzt ist ihr Gold fast gewichen, und Strahlen hat sie nun keine mehr. Jetzt ist das Ende ganz nahe . . .

Erzähler #155: Es durchschauert sie.

Joachim #156: Willst Du Dich nicht setzen, meine Liebe?

Cläre #157: Mich friert, Joachim . . .

Joachim #158: Wir wollen uns auf den Divan setzen.

Cläre #159: Da sehen wir die Sonne nicht. Wir wollen bleiben bis sie hinunter ist, es kann ja nicht lange mehr dauern.

Joachim #160: Du zitterst, mein Clärchen. Du bist bleich geworden.

Cläre #161: Du wirst mich bald noch bleicher sehen, mein Joachim. Der Mohn in meinem Haar ist wohl nun auch verdorrt?

Joachim #162: Er ist noch wie er war.

Cläre #163: Das macht, weil die Sonne noch am Himmel steht. Wenn sie erst unter ist —

Joachim #164: Dann wird die Aufregung meiner guten Cläre gewichen sein.

Cläre #165: Ja, das wird sie.

Joachim #166: Wenn sie nur recht bald unterginge.

Cläre #167: Nein, wenn wir sie nur noch recht lange behielten. Die Sonne kann nie lange genug bleiben. Hoch im Norden giebt es ein Land, da scheint sie ein halbes Jahr hindurch ohne unterzugehen. Dann erst kommt eine grosse, halbjährige Nacht. Dort möchte ich einmal leben in Licht und Wonne ein halbes Jahr hindurch, und dann, wenn die traurige Nacht hereinbricht, sterben. Mit der Sonne vergehen in die unendliche Nacht hinein . . .

Joachim #168: Was Du für seltsame Gedanken hast. Du sollst nicht an das Sterben denken.

Cläre #169: Wir sollen Alle daran denken, denn wir haben es Alle vor uns.

Joachim #170: Das ist noch lange hin.

Cläre #171: Nichts ist lange, wenn man den Tod im Gedächtnis hat — — Hörst Du die Nachtigall?

Joachim #172: Dort drüben im Jasmin.

Cläre #173: Sie weint auch über die sinkende Sonne. Aber des Morgens begrüsst sie sie um so froher.

Joachim #174: Horch — nun antwortet eine andere. Sie sitzt tiefer im Buschwerk. Hörst Du sie?

Cläre #175: Ich höre sie.

Joachim #176: Ihre Stimme ist heller. Wie Silber.

Cläre #177: Aber traurig ist sie auch.

Joachim #178: Jetzt giebt die andere wieder Antwort.

Erzähler #179: Cläre fasst sich jäh an die Brust:

Cläre #180: Ah

Joachim #181: Was ist Dir, Clärchen?

Erzähler #182: Cläre hustet, die Hand auf der Brust.

Cläre #183: Es ist nichts . . .

Joachim #184: Ich sollte es nicht leiden, dass Du stehst, meine Liebste; es strengt Dich unnütz an.

Cläre #185: Nein, Joachim, das Stehen nicht. Sieh, ich lehne mich ja so fest an Dich an, ich merke ja gar nicht, dass ich stehe.

Joachim #186: Aber der Lehnstuhl ist bequemer, und Du siehst auch von dort aus Alles.

Cläre #187: Ich sitze nicht gern im Lehnstuhl, ich fühle mich gleich um so viel kränker darin, — bin ich nicht so schon krank genug?

Erzähler #188: Sie hustet.

Joachim #189: Du bist längst nicht so krank wie Du Dich heute fühlst, mein Clärchen.

Cläre #190: Fasse mich fest um . . . Joachim . . .

Erzähler #191: Sie hustet.

Cläre #192: Jetzt hat sie schon . . . den Horizont . . . siehst Du . . . da . . . da . . .

Joachim #193: Ja, ihr unterer Rand hat nun den Horizont erreicht.

Cläre #194: Sie blendet nun gar nicht mehr,

Erzähler #195: Es durchschauert sie.

Cläre #196: Wo geht sie hin . . .

Joachim #197: Zu andern Menschen, die bisher im Dunkel waren, wie wir nun auch bald sein werden.

Cläre #198: Halte mich . . . halte mich . . . Joachim . . . ich habe solche Angst . . . solche entsetzliche Angst . . .

Joachim #199: Wovor nur, Liebste?

Cläre #200: Vor dem Ende.

Joachim #201: Vor dem Ende, Clärchen?

Cläre #202: Ja . . . siehst Du . . . ich meine . . . vor dem Ende . . . der Sonne . . .

Erzähler #203: Sie weint heftig.

Joachim #204: Cläre, meine liebe, gute Cläre, was hast Du nur . . . weine doch nicht, meine Cläre . . . sieh, Du brauchst Dich doch gar nicht zu ängstigen, Liebste . . . Du sollst doch nicht so fassungslos sein . . . Clärchen . . .

Cläre #205: Joachim . . . ich habe Schmerzen . . . überall . . .

Erzähler #206: Sie hustet.

Cläre #207: . . . Ich glaube, ich setze mich nun doch lieber . . .

Joachim #208: Das ist recht von Dir. Komm . . . lehne den Kopf hinten an. Warte, ich will Dir ein Kissen holen.

Erzähler #209: Er holt eins der Kissen von der Chaiselongue und legt es Clären hinter Kopf und Rücken.

Cläre #210: Mich friert, mich friert . . .

Joachim #211: Ich will Dich einhüllen bis Du warm bist . . .

Erzähler #212: Er hüllt sie in eine grosse Decke.

Joachim #213: . . . so . . . so . . . mein gutes, liebstes Mädchen, sitzest Du so bequem?

Erzähler #214: Cläre ängstlich:

Cläre #215: Bleibe bei mir, Joachim.

Joachim #216: Aber Clärchen . . .

Erzähler #217: Cläre wie zuvor:

Cläre #218: Bleibe bei mir . . .

Erzähler #219: Joachim küsst sie und setzt sich neben sie:

Joachim #220: Siehst Du, so sind wir ganz dicht beieinander.

Erzähler #221: Er küsst ihre Hand, die er in der seinigen behält.

Cläre #222: Küsse die Hand lieber nicht, sie ist kühl und hager zum Erschrecken. Als Du sie das erste mal küsstest, war sie noch warm und schön.

Joachim #223: Es ist die Hand meiner Cläre, die ich küsse.

Erzähler #224: Er küsst sie

Joachim #225: und die ich in meiner behalten will.

Cläre #226: Lieber Joachim . . .

Erzähler #227: sie hustet

Cläre #228: . . . Joachim . . . sag ... ich höre ... die Nachtigallen nicht mehr . . .

Joachim #229: Sie haben aufgehört mit singen.

Cläre #230: So wird eins nach dem andern still.

Joachim #231: Sie werden müde geworden sein.

Cläre #232: Sie haben den Mut verloren. —

Erzähler #233: Sie neigt sich nach vorn, indem sie mit grossen Augen hinauslugt.

Joachim #234: Wonach suchst Du, Cläre?

Cläre #235: Nach der Sonne. Ich sehe sie nicht. Rücke den Stuhl etwas näher ans Fenster, dass ich die Sonne sehe.

Erzähler #236: Joachim rückt den Stuhl dicht ans Fenster:

Joachim #237: Wie Du befiehlst, mein Clärchen . . . siehst Du sie so?

Erzähler #238: Cläre indem sie zusammenschauert:

Cläre #239: Mein Gott . . . mein Gott . . .

Joachim #240: Sie ist nun zur Hälfte versunken.

Cläre #241: Es ist wohl schon mehr als die Hälfte . . . O mein Gott . . .

Erzähler #242: Sie schliesst die Augen und lehnt sich ermattet hintüber.

Joachim: Bist Du müde, mein Clärchen?

Erzähler #243: Cläre antwortet nicht.

Joachim beugt sich tief über ihre Hand, die er noch immer in seiner

hält und küsst sie. — Pause.

Cläre wie oben, mit geschlossenen Augen:

Cläre #244: Joachim . . .?

Joachim #245: Meine Liebste?

Erzähler #246: Cläre wie oben, ganz langsam:

Cläre #247: Siehst Du die weissen Nebel, die über die Wiese gehn . . .

Joachim #248: Ich sehe sie nicht, mein Clärchen.

Erzähler #249: Cläre wie oben:

Cläre #250: Sie wandern über den Teich, und die Vögel steigen aus dem Wasser auf und fliehen in die Wälder hinein. Siehst Du die Nebel nicht?

Joachim #251: Es werden die Nebel des Abends sein.

Erzähler #252: Pause.

Cläre indem sie langsam die Augen öffnet:

Cläre #253: Joachim . . . wo bin ich . . .

Joachim #254: Bei mir, Liebste.

Cläre #255: Bei . . . ja . . . ich weiss es . . .

Erzähler #256: Sie blickt sehnsüchtig hinaus.

Cläre #257: . . . bei . . . der sinkenden Sonne . . . wenn wir mit ihr könnten, Joachim! . . . wenn wir beide mit ihr könnten . . .!!

Joachim #258: Mit ihr hält Keiner Schritt. Wir müssen sie ziehen lassen.

Cläre #259: Wie sich die Blätter der Birken regen. Das ist der Abend.

Erzähler #260: Sie schliesst die Augen und lehnt sich wieder hintüber.

Joachim #261: Es beginnt zu dämmern. Die Dämmerung wird mein Liebstes ruhiger machen.

Erzähler #262: Pause. Draussen fängt eine Äolsharfe leise zu klingen an. Es dunkelt.

Cläre schreckt empor:

Cläre #263: Horch . . .

Joachim #264: Es ist die Äolsharfe auf dem Gartenhaus. Höre nicht auf sie. Ich werde morgen bitten, dass man sie herunter nimmt. Sie ist nicht für Dich.

Cläre #265: Sie . . . ist . . . sie . . .

Erzähler #266: Sie hustet heftig.

Cläre #267: Joachim . . . halte mich . . . . .

Joachim #268: Ich halte Dich ganz fest, Clärchen.

Cläre #269: Mein . . . Joachim . . . wo bist Du . . . denn . . . ich . . . sehe . . . Dich . . . gar nicht . . . mehr . . . was . . . habt Ihr denn . . . mit . . . meinen . . . Äugen . . . gemacht . . .? . . . Ich . . . kann ja . . . gar nichts . . . mehr . . . unterschei . . .? . . . . wo ist denn . . . . zeig mir doch . . . . dort . . . dort . . . Sonne, liebe Sonne . . . liebe Sonne . . . o . . .

Erzähler #270: Sie hustet

Cläre #271: . . . lass sie doch nicht . . .

Erzähler #272: Es durchschauert sie, sodass ihr die Zähne vor Frost aufeinander beben.

Cläre #273: . . . Nun . . . ist es . . .

Erzähler #274: Sie hustet.

Cläre #275: . . . Joachim . . .! . . . ah

Erzähler #276: Sie sinkt tot rücküber.

Joachim #277: Clärchen! —

Erzähler #278: Pause

Joachim #279: . . . Clärchenl —

Erzähler #280: Pause.

Joachim #281: . . . Clärchen, fühlst Du, dass ich bei Dir bin? —

Erzähler #282: Pause.

Joachim #283: . . . Hörst Du denn meine Stimme nicht, Clärchen? —

Erzähler #284: Pause.

Joachim #285: . . . Clärchen, kannst Du denn Deine Augen nicht mehr . . .

Erzähler #286: Er tritt still an den Fensterpfosten und blickt hinaus in den Garten, wo noch immer die Äolsharfe in leisen Tönen erklingt. Er spricht monoton und langsam:

Joachim #287: Nun Ist sie hinunter, die junge Sonne, und wird niemals wiederkehren . . .

Erzähler #288: Darauf wendet er sich zu Cläre, kniet vor ihr nieder, ergreift ihre Hände und küsst sie lange. Dann bettet er leise weinend sein Haupt in ihren Schoss.

Vorhang langsam.

Ende von Sonnenuntergang – eine Dichtung von Hans Bethge.